Leipzig, Heilandskirche / "Westkreuz"
"Eine Gemeinde schwingt sich auf!"
Bauzeit: 1886-1888
Architekt: Johannes Otzen
Denkmalstatus: ja
Ev. Kirche der Kirchgemeinde Leipzig Lindenau-Plagwitz, Kirchenbezirk Leipzig
Umbau: 2019-2023
Architekten: Arbeitsgemeinschaft Irlenbusch von Hantelmann Architekten Architekten PartG mbB (ih) + Sero Architekten, Leipzig
Entwidmung: nein
Verkauf: nein
Konfession: evangelisch
Eigentümerin und Trägerschaft: Ev.-Luth. Kirchgemeinde Leipzig Lindenau-Plagwitz
Lage / Adresse: Weißenfelser Str. 16, 04229 Leipzig
Die Kirche liegt im Stadtteil Plagwitz, ca. 3 km westlich vom Zentrum. Der Stadtteil Plagwitz ist geprägt durch Wohnhäuser und Industriebauten aus der Gründerzeit; seit 1994 ist er Sanierungsgebiet. In Folge der Gentrifizierung wuchsen die Bevölkerungszahlen stark an. Der Stadtteil gilt heute als Zentrum der Kultur- und Kreativbranche.
Bau
Freistehende Pfarrkirche auf longitudinalem Grundriss
Transformation
Der Transformationsprozess der Leipziger Heilandskirche beginnt bereits in den 1980er Jahren. 1981 wurde – um die Kirche angesichts massiven Verfalls erhalten zu können – eine Zwischendecke eingezogen, um in dem so entstandenen Erdgeschoss ein Depot des landeskirchlichen Kunstarchivs unterzubringen. Der Gottesdienst konnte im neu entstandenen Obergeschoss stattfinden, doch der großzügige Raumeindruck ging verloren. Die neuen Räume konnten nur durch beengte Treppenaufgänge erreicht werden, beim Betreten der Kirche lief man geradezu gegen eine Wand.
Nach Jahrzehnten schrumpfender Gemeindeaktivitäten fusionierte die Kirchengemeinde 1999 mit der benachbarten Philippusgemeinde. Man entschied sich für Heiland als Gottesdienstort. Philippus ist inzwischen als Tagungsort mit Hotelbetrieb umgenutzt. Der neue, junge und mit viel Expertise besetzte Kirchenvorstand setzt sich seit 2008 wieder für mehr Sichtbarkeit im Quartier und für eine Verbesserung der architektonischen Situation ein. Dabei sollte der Campus aus Kita, Seniorenheim und Kirche neu zur Geltung kommen.
Mit dem Verkauf der Philippuskirche wurden Kräfte frei. 2017 wurden zunächst im Erdgeschoss neue Fenster eingebaut, um die 2018 vom Landeskirchlichen Archiv verlassenen Räume neu nutzen zu können. Nach eher erfolglosen Versuchen, ein Familienzentrum zu etablieren und einer ganzen Reihe kreativer kultureller Zwischennutzungen (Kunstinstallationen, Probenraum, Demokratie- und Musikfestivals, Rockkonzerte und Tango-Abende, alternativer Weihnachtsmarkt im Innenraum etc.) wurde die Idee eines Stadtteilzentrums geboren. Über eine Projektstelle wurden erste Personalmittel akquiriert.
Von 2019 bis 2023 wurde der Innenraum nach Plänen der beiden Architekturbüros Irlenbusch von Hantelmann und Sero Architekten aus Leipzig saniert. Dabei wurde auf viel Transparenz und Helligkeit Wert gelegt, um den oberen und unteren Bereich in eine neue Beziehung zueinander zu setzen. Eine großzügige Freitreppe erschließt nun das Obergeschoss und erlaubt Einblicke in beide Raumebenen.
Raum
Die evangelische Kirche wurde 1888 von dem bekannten Architekten Johannes Otzen entworfen, der nur wenige Jahre später zusammen mit dem Wiesbadener Geistlichen Emil Veesenmeyer die bekannte Ringkirche („Wiesbadener Programm“) plante. Auch wenn seine Kirchen eine deutlich historisierende – hier gotisierende – Sprache sprechen, ist Otzen zu den Reformarchitekten des Späthistorismus zu zählen, die ihre sakralen Bauten nicht nach historischen Vorbildern, sondern inspiriert von liturgischen Reformideen entwarfen. Das Innere der Heilandskirche in reicher Backsteinornamentik folgt dem Vorbild barocker Wandpfeilerkirchen mit schmalen umlaufenden Emporen. Der Altarraum von geringer Tiefe schließt dynamisch an das Kirchenschiff an. Der 86 m hohe Südturm des Gebäudes prägt das gesamte Stadtviertel.
Rettung durch Teilung
In der Zeit des DDR-Regimes verfiel die Kirche aufgrund fehlender Geldmittel der Kirchengemeinde zunehmend. Anfang der 1980er Jahre nahm man ein Angebot der Baupflege an, einen Teil des Raumvolumens für eine Archivnutzung abzutreten und so Geldmittel für den Erhalt der Bausubstanz zu bekommen. Auf Höhe der Emporen wurde 1981/82 eine Zwischendecke eingezogen, um im Erdgeschoss ein Depot des Landeskirchlichen Archivs einzurichten. Dieses Depot bestand bis 2018, hier lagerten u. a. Kunst- und Ausstattungsstücke aus der 1968 gesprengten Leipziger Universitätskirche.
Zwei Ebenen in durchlässiger Verbindung
Von Beginn der Planungen an stand für die Kirchengemeinde fest, ihr Gebäude für das Stadtquartier Plagwitz aufzuschließen und vor allem die unteren Räume für verschiedene Nutzungen anzubieten. Auch auf der oberen Ebene sind neben Gottesdiensten Konzerte und andere Veranstaltungsformate vorgesehen, so dass keine strikte Trennung zwischen den beiden Ebenen erwünscht war. Man wünschte sich nicht nur eine insgesamt ansprechendere Atmosphäre für den Zusammenschluss von Gemeindearbeit und Quartiersarbeit, sondern auch ein hohes Maß an Flexibilität und Durchlässigkeit zwischen den beiden Raumebenen. So entschied man sich für Glasflächen anstelle massiver Mauern und eine barock anmutende Freitreppe, die gut zu der intendierten Raumdynamik des ursprünglichen Architekten Otzen passt. Die unterschiedlichen Zeitschichten wurden dabei dezidiert sichtbar gemacht – Transformation als weitergeschriebene Nutzungsgeschichte und Umbaukultur.
Neben dem neuen Logo „Westkreuz“ des nun nicht mehr allein als kirchlichen Versammlungsort, sondern explizit als Stadtteilzentrum verstandenen Baus ist die skulptural gestaltete Freitreppe im Inneren ein regelrechtes Symbol des dynamischen Aufschwungs sowohl der Gemeinde als auch des Gebäudes.
Die Räume im Untergeschoss zeichnen sich durch ihre Multifunktionalität aus, sie sind durch Glastüren und Vorhänge in unterschiedlicher Weise voneinander zu trennen oder zu öffnen. Die Küche ermöglicht gesellige Nutzungen von Kirchencafé über gemeinsames Senioren-Kochen bis zu Veranstaltungscatering. Die Kapelle in der unteren Ebene wurde erhalten. Außerdem wurde das Gebäude mit Aufzug und Toiletteneinbauten barrierefrei erschlossen.
Sakral
Die erweiterte Nutzung der Kirche in den 1980er Jahren war nicht allein auf architektonischer, sondern auch auf liturgischer Ebene rein funktional erfolgt. Der sakrale Raum wurde um einige Meter in die Höhe gehoben, doch sonst hatte man zunächst wenig verändert. Bereits in der Zeit der Zwischennutzung wurden die Spielräume des frei bestuhlbaren Raums regelmäßig genutzt. Mit dem Stadtteilzentrum erweitert sich nun die Vielfalt der Veranstaltungsformate und verbindet sich immer wieder auch mit gottesdienstlichem Handeln.
Bei der umfangreichen Neugestaltung seit 2019 wurde sehr darauf geachtet, dem Raum einen Teil seiner ursprünglichen Wirkung zurückzugeben. Mit der unmittelbaren Sichtbarkeit des Gewölbes ist auch für Besucher*innen der unteren Etage klar, dass sie sich in einem Sakralbau befinden.
Neben der Öffnung des Raums sucht die Gemeinde auch nach passenden Wegen, ihre Angebote zugänglicher zu machen: Sei es die Reformulierung biblischer oder liturgischer Inhalte in säkulare Sprache, die Kooperation mit säkularen Partner*innen im Sozialraum oder die Integration ungewöhnlicher Gottesdienstformate – in der Heilandskirche wird am Ziel gearbeitet, die Grenzen von Innen und Außen, von Oben und Unten zu verwischen.
TRANSARA-Perspektiven
Die Heilandskirche ist ein gutes Beispiel für die positive Weiterentwicklung eines bereits durch eine ältere Transformation abgewerteten Raums. Die neuen architektonischen Interventionen, v.a. die gelungene Architektur der breiten Freitreppe greifen sehr gut sowohl die ältere horizontale Transformation als auch die Charakteristika der neuen Nutzungsmöglichkeiten als Stadtteilzentrum auf. Auch die liturgischen Raumqualitäten werden aufgegriffen und weiterentwickelt, um die sozialräumliche Ausstrahlung der hybriden Neunutzung aktiv zu verstärken. Anstelle einer liturgischen Neuorientierung entschied man sich bereits in der Vergangenheit für höhere Flexibilität durch eine Bestuhlung.
Stadtteilzentrum im „Unterdeck“, Sakralraum oben: Separation oder Interaktion? Die Umgestaltung von Zwischendecke und Treppe steht symbolisch für eine Öffnung der Kirchengemeinde, die selbstbewusst einen kirchlichen sozialen Ort in der säkularen Stadt anstrebt. Die neu errichtete „Himmelstreppe“ lässt die Kirche offener und einladender wirken und symbolisiert die gestärkten Verbindungen zwischen den hybriden Nutzungsformen. Kirchliche und säkulare Akteure und Institutionen sind an Transformation und Nutzung beteiligt. Die umfangreiche Förderung des Umbaus, der Preis der Stiftung Kiba für das Raumkonzept und die Unterstützung durch politische und kulturelle Akteure im Stadtteil zeugen von hoher Resonanz und gesellschaftlicher Offenheit für die Idee.
Die Transformation der Heilandskirche zum Stadtteilzentrum ist ein gelungenes Beispiel für den denkmalgerechten Erhalt einer großen historistischen Stadtteilkirche durch kreatives und einfühlsames Weiterbauen. Sie steht auch für die „Transformation der DDR-Transformation“: die damals 1982 bewusst und pragmatisch durchgeführte „Erniedrigung“ des Gottesdienstraumes durch Einzug einer Zwischendecke und Vermauerung des Eingangs mit einer Quertreppe wird durch den Einbau einer öffnenden „Himmelstreppe“ wieder aufgehoben. Dennoch bleibt durch die Beibehaltung der Zweigeschossigkeit die Möglichkeit der multifunktionalen Nutzung für oben und unten weiterhin bestehen.
Bei der Transformation der Heilandskirche handelt es sich räumlich um eine bereits in einem vorangegangenen Transformationsprozess vorgenommene typische horizontale Teilung des Kirchenschiffes. Dieser Eingriff ist in erster Linie pragmatisch motiviert entstanden: Nutzungstrennung mit viel Raumgewinn unter Verwendung „überschüssiger“ Höhe. Der neuzeitliche Eingriff mit einer barockisierenden Treppe passt nicht so recht zur neogotischen Grundfigur, versucht damit aber die architektonisch eigentlich problematische Trennung gestalterisch zu überspielen.
Aus immobilienwirtschaftlicher Perspektive stellt die Heilandskirche aktuell in erster Linie ein Beispiel für die Zusammenarbeit von Kirchenvorstand und Fachausschüssen dar. Potenzial besteht in der Integration des Sakralbaus in das Quartierszentrum Westkreuz. Kaufmännische Aspekte, immobilienwirtschaftliches Knowhow und Prozesse der Projektentwicklung wurden beim Prozessverlauf der Heilandskirche bisher eher „intuitiv“ und nur partiell miteinbezogen. Zum derzeitigen Zeitpunkt ist nicht transparent, welche Teile der Umnutzung wirtschaftlich tragfähig sind und somit die Zukunftsfähigkeit des Vorhabens sichern können. Hierbei können weiterführende Analysen, wie Bedarfs- und Machbarkeitsanalysen sowie Hilfe aus der Beratungspraxis hilfreich hinzugezogen werden.
Aus Sicht einer diskurskritischen Praktischen Theologie zeigt sich: Die Heilandskirche/Westkreuz ist eine Mischform zwischen Kirche und Stadtteilzentrum, was schon die Namensgebung andeutet. Hier wird durch die zwei unterschiedlichen Bezeichnungen nicht vereinheitlicht, sondern geweitet. In diesem Sinn kann die Himmelstreppe als ein „Zwischen“ gewertet werden. Sie ist ein Übergang zwischen verschiedenen Bereichen, die sich vielleicht als „sakral“ und „profan“ beschreiben lassen: Oben Kirche, unten soziales Zentrum. Aber wo sind wir dann, wenn wir auf der Treppe sind?