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14. November 2021

Tagungsbericht: "Diakonische Kirchen(um)nutzung" Tagungsbericht: "Diakonische Kirchen(um)nutzung"

In der Forschung zu Kirchen(um)nutzung spielen diakonische und gemeinwesenorientierte Transformationen gegenüber kommerziellen, privaten und kulturellen Nutzungen bisher eine untergeordnete Rolle. Im Rahmen der Arbeit der Forschungsgruppe waren gerade im Osten Deutschlands einige prominente Beispiele in diesem Bereich aufgefallen. Auf einem Symposium am 27./28.9. in Leipzig, organisiert von Teilprojekt 2, wurden diese in einen weiteren Kontext gestellt. 

Zunächst ist die Diakonie selbst Ort von Sakralräumen. Der Theologe Tobias Kirchhof zeigte dies anhand von unterschiedlichen Raumkonstellationen in Einrichtungen der Altenhilfe und in Kliniken seit dem 19. Jahrhundert, die Historikerin Julia Mandry anhand von mittelalterlichen Spitälern. Auch Stadtkirchen waren im Mittelalter sowohl Räume der konkreten Armenfürsorge, als auch Orte der Akquise finanzieller Mittel für diakonische Aufgaben und der Kommunikation diakonischer Ideale, etwa in Bildern und Glasfenstern.

Kirchengebäude werden auch heute vielerorts regulär für diakonische Aktivitäten genutzt, etwa als Vesperkirchen oder im Rahmen des Kirchenasyls. Es lassen sich aber auch dezidiert diakonische Umnutzungen sowie sozialraumorientierte, diakonisch profilierte Nutzungserweiterungen wahrnehmen. In Workshops wurden zwei Beispiele für eine Umnutzungvon Kirchen durch diakonische Institutionen genauer in den Blick genommen: das geplante soziokulturelle Zentrum in der Martinskirche in Apolda (ein Projekt der IBA Thüringen) und der Tagungsort selbst: die zum Inklusionshotel umgebaute Philippuskirche in Leipzig. Ein besonderer Fokus lag dabei auf den räumlichen Transformationen bzw. Beharrungskräften. Vorbereitet wurden die Workshops von Alexander Deeg und Kerstin Menzel (Teilprojekt 2) und den Kulturwissenschaftler:innen Uta Karstein und Thomas Schmidt-Lux. Sakralraumtransformation wurde in diesen Projekten, so der Architekt Ulrich Königs in seiner Tagungsbeobachtung, als Ausdruck gesellschaftlicher Veränderungsprozesse ansichtig, im dem auch das Verhältnis von Kirche und Gesellschaft neu verhandelt werde.  

In vier Vorträgen wurden dann sozialraumorientierte Nutzungsveränderungen von Kirchengebäuden in den Blick genommen. Der Stadtplaner Jörg Beste wies auf die Relevanz der Kirchengebäude für die soziale Stadtentwicklung hin und stellte einige stadtteilorientierte Projekte im Blick auf ihre kirchliche, soziale und baukulturelle Qualität vor. Der Immobilienwirtschaftler Sven Bienert zeigte auf, dass immaterielle Wertschätzung der Gebäude und externe Effekte einer sinnvollen Kirchennutzung bisher zu wenig in den kaufmännischen Kalkulationen aufgenommen seien. Gerade für soziale Nutzungen sei ein langfristig ökonomisch tragfähiges Konzept eine Herausforderung. Die Theologin Sonja Keller stellte empirische Forschungsergebnisse vor, die nahelegten, dass der Bezug auf den Sozialraum zwar in kirchenleitenden Diskursen als leitende Idee propagiert wird, unter innerkirchlichen Akteuren jedoch häufig nicht unmittelbar im Blick ist. Instrumente zur differenzierten Erfassung von sozialräumlichen Bedarfen seien im Raum der Kirche noch nicht ausreichend entwickelt. Die Kunsthistorikerin Stefanie Lieb nahm die besonders häufig von Umnutzung betroffenen Nachkriegskirchen in den Blick. Häufig in Neubaugebieten errichtet, waren sie in ihrer stadträumlichen Einordnung und ihrem Baukonzept immer als soziale Orte intendiert – eine Ausrichtung, die sich in sozialen Umnutzungskonzepten neu zur Geltung bringen lässt.

Neben diesen unterschiedlichen, aber expliziten diakonischen (Um)Nutzungen standen im Rahmen öffentlicher Abendvorträge auch die impliziten diakonischen Dimensionen im Fokus, die im Grunde  allen Kirchengebäuden als offenen Räumen der Gastlichkeit, als Schutzräumen, als Orten grenzüberschreitender Gemeinschaft innewohnen. Dieser Aspekt wurde sozialräumlich differenziert erhellt: Anhand einer Studie zu Besucher:innen von Citykirchen zeigte die Soziologin Hilke Rebenstorf diese als äußerst wirkungsvolle Räume auf, die seelische Grundbedürfnisse nach Unterbrechung oder neuer Kraft für den Alltag erfüllen können und mit kollektiven Ritualen einen wichtigen Beitrag zur gesellschaftlichen Verständigung leisten. Der Theologe Jan Hermelink reflektierte den Anspruch auf Inklusion, der sich im Konzept des Gemeindehauses (19. Jh.) sowie im Bau von Gemeindezentren in vielen Stadtteilen (1960er) manifestierte. Neben prägnanten diakonischen Impulsen zeigte er jedoch auch, dass und wie es bei diesen Gebäuden zu neuen religiösen und sozialen Exklusionen kommt. Darüber hinaus lenkte der den Blick auf das Verhältnis von sakralen und nicht-sakralen Räumen in kirchlichen Gebäudeensembles. Neben der Nothilfe und der Lebenshilfe sah die Theologin Christine Siegl schließlich in der Nutzungserweiterung von Dorfkirchen Potentiale für die Diakonie als Lebenskunst. Die Sanierung und Entwicklung neuer – kultureller und sozialer – Nutzungen habe gerade im Kontext von Peripherisierungsprozessen das Potential für Selbstwirksamkeitserfahrungen. Als religiöse Räume, egal wie selten Gottesdienst stattfindet, werden Dorfkirchen dann zu offenen Gasträumen. Der Theologe und Sprecher der Forschungsgruppe, Albert Gerhards, auf den die Unterscheidung einer impliziten und expliziten diakonischen Dimension der Kirchengebäude zurückgeht, unterstrich in seiner Response noch einmal die Ausdifferenzierung des Diakoniebegriffs, die sich in dieser raumsensiblen Perspektive ergibt.

Gemeinde und Diakonie sind beide Institutionen der Kirche. Sie funktionieren jedoch auch nach unterschiedlichen Logiken, wie Bischöfin Beate Hofmann (Ev. Kirche von Kurhessen-Waldeck) am Beginn der Tagung aufzeigte. Es ist daher nicht verwunderlich, so der Theologe Tobias Braune-Krickau in der zweiten Tagungsbeobachtung, dass diakonische Kirchen(um)nutzungen einerseits viel Zustimmung finden, sich in der Praxis aber weniger leicht gestalten und sich insbesondere sehr auratische Sakralräume als sperrig erweisen. Auch die grundlegenderen Aspekte der Kommunikation diakonischer Ideale und die Akquise von finanziellen Mitteln für diakonische Zwecke seien daher als diakonische Dimensionen der Nutzung von Kirchengebäuden im Blick zu behalten.

Der interdisziplinäre Ansatz der Tagung und die Kombination (bau)historischer und gegenwartsfokussierter Analysen führte zu ertragreichen Diskussionen. Die Vorträge sollen 2022 in der Reihe der Forschungsgruppe bei Schnell & Steiner veröffentlicht werden. Ein erster Einblick in die Tagungsergebnisse wird Anfang Dezember auf https://zeitzeichen.net/erscheinen. Wir danken insbesondere der Alfred Jäger Stiftung für Diakonie für die finanzielle Unterstützung der Tagung.

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